Freitag, 21. Februar 2014

Erich Fried: Die Gewalt

Die Gewalt fängt nicht an,
wenn einer einen erwürgt.
Sie fängt an, wenn einer sagt:
"Ich liebe dich:
Du gehörst mir!"

Die Gewalt fängt nicht an,
wenn Kranke getötet werden.
Sie fängt an, wenn einer sagt:
"Du bist krank:
Du mußt tun, was ich sage!"

Die Gewalt fängt an,
wenn Eltern
ihre folgsamen Kinder beherrschen
und wenn Päpste und Lehrer und Eltern
Selbstbeherrschung verlangen.

Die Gewalt herrscht dort, wo der Staat sagt:
"Um die Gewalt zu bekämpfen,
darf es keine Gewalt mehr geben
außer meiner Gewalt"

Die Gewalt herrscht,
wo irgendwer oder irgend etwas
zu hoch ist oder zu heilig,
um noch kritisiert zu werden.

Oder wo die Kritik nichts tun darf
sondern nur reden,
und die Heiligen oder die Hohen
mehr tun dürfen als reden.

Die Gewalt herrscht dort, wo es heißt:
"Du darfst Gewalt anwenden!"
aber oft auch dort, wo es heißt:
"Du darfst keine Gewalt anwenden!" 

Die Gewalt herrscht dort,
wo sie ihre Gegner einsperrt
und sie verleumdet
als Anstifter zur Gewalt.

Das Grundgesetz der Gewalt lautet:
"Recht ist, was wir tun.
Und was die anderen tun,
das ist Gewalt!"

Die Gewalt kann man vielleicht nie
mit Gewalt überwinden,
aber auch nicht immer
ohne Gewalt.

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